Hufe und Geschirr klappern im Takt

    Morgen V.
    27.09.2003
    Eine Woche mit dem Pferdewagen unterwegs - ist das nicht langweilig? Was macht man denn da den ganzen Tag?" Die skeptischen Fragen einiger Freunde klingen mir noch im Ohr, als am siebten Tag der Reise im Zigeunerwagen das Lesezeichen immer noch auf Seite 30 in meinem Roman steckt.Wer mit einer PS in den französischen Vogesen unterwegs ist, hat keine Zeit für Langeweile. Hinter jeder Kurve wartet ein neues Abenteuer, hinter jedem Baum gibt es etwas zu entdecken.Die erste Herausforderung wartet an der Ausgangsstation in Fontenois-la-Ville, einem kleinen Ort etwa 70 Kilometer nordwestlich von Belfort. In Reih’ und Glied stehen dort die Rollwagen, jeder mit einem hübschen Namen bedacht. Auf uns wartet "Célestine" - rund acht Quadratmeter überdachter Raum mit vier Betten, Kochecke, Kühlschrank und Staufächern. Und mit jeder Menge Kanten und Ecken, an denen man sich ordentlich blaue Flecken holen kann. In der kommenden Woche wird uns "Célestine" gleichzeitig Wohn- und Schlafzimmer sowie Küche sein. Und das an ständig neuen Orten.Am Hof warten die braven Zugtiere. Ausgewählt nach besonders ausgeglichenem Charakter und auch von "Pferdeanfängern" nach einer Einweisung gut zu führen, heißt es im Prospekt. Mein Begleiter verguckt sich gleich in die blonde Mähne von Daisy, einer 800 Kilo schweren Schönheit mit eimergroßen Hufen. Abgemacht, wir nehmen die 14 Jahre alte Stute mit auf die Reise. Besser gesagt: Sie nimmt uns mit. Die erste "Liebesprüfung" kommt beim Anschirren, das uns die deutsche Praktikantin Marie geduldig erklärt. "Autsch", stöhnt mein Begleiter und deutet auf seinen Schuh, auf dem sich gerade ein eisenbewehrter Pferdefuß ausruht. Blaue Zehen sind beim Wagen-Abenteuer inbegriffen, wenn man nicht aufpasst.Rasch werden die eigenen Sachen im Bauch der "Célestine" verstaut, schon geht es los: Marie und Jacky, der "Schmied-Schweißer-Pferdedoktor-Kummerkasten", begleiten uns die ersten 500 Meter und zeigen, wie man den Wagen lenkt. Besonders bergab gilt es, die Augen aufzuhalten: Immerhin wiegt der Wohnwagen an die 1,2 Tonnen - da hätte selbst Daisy mit ihrer breiten Brust nicht mehr viel entgegenzusetzen.Grüne "Roulez nature"-Schilder (etwa: "Rollen auf grüner Strecke") weisen uns den Weg. Außerdem haben wir ein dickes Dossier mit auf den Kutschbock bekommen, in dem jede der sechs Tagesetappen (jeweils 10 und 20 Kilometer) ausführlich und mit Detailkarte dargestellt wird. Angespannt absolvieren wir die ersten Kilometer. Hinter jeder Wegbiegung kann eine Überraschung lauern: Wie reagiert unser in der Franche-Comté gezüchtetes Kaltblut auf tuckernde Traktoren, rasende Motorräder, kläffende Hunde? Was ist, wenn die Deichsel bricht, ein Hufeisen verloren geht oder ein umgestürzter Baum den Pfad blockiert? In unseren Köpfen bauen sich Horrorszenarien auf. Derweil klappern Daisys Hufe rhythmisch auf dem Asphalt. Begleitend scheppern im Mini-Schrank Tassen und Töpfe. Daisy kennt ihren Weg, läuft ihn in dieser Saison schon zum fünften Mal. Energisch streckt sie ihren langen Hals, will Zügelfreiheit. Gerade als Kutscher-Anfänger ist man leicht versucht, das Pferd mit den Leinen "festhalten" zu wollen. Erst allmählich üben wir uns in Gelassenheit."Hü" heißt "lauf", "ho" bedeutet "halte an": So einfach funktionier die Kommunikation zwischen Pferd und Passagier. Doch Daisy beschäftigt uns den ganzen Tag. Morgens holen wir sie bei unseren jeweiligen Übernachtungsstationen - meist sind es Bauernhöfe - von der Weide, geben ihr Kraftfutter und putzen sie. Dann wird aufgezäumt und angespannt. Bis zur Rast - zwischen 12 und 14 Uhr ("entre midi et deux") hat Daisy wie alle Franzosen ein Anrecht auf eine ausgedehnte Mittagspause - rollen wir durch die wunderschöne, hügelige Landschaft. Abends steht zuerst die Pferdepflege an, bevor man sich selbst Dusche und Essen gönnen kann.Noch nicht einmal seinen Imbiss darf man ungestört genießen: Unser blondes Kaltblut interessiert sich heftig für Joghurt und Buttercroissants. Mit ihren weichen Pferdelippen schnuppert Daisy zärtlich an den Hosentaschen, ob nicht eine Leckerei herausspringt. Tut es. Wir haben einen Fünfkilo-Sack gesunder Pferdeleckerli ("mit Biotin") dabei. Ein durchsichtiger Versuch, sich die Gunst des mächtigen Tiers zu erkaufen. Aber er funktioniert.Zuckerstücke sind strikt verboten; Pferde be bekommen keine dritten Zähne.Und die Kutschfahrer? Wer mag, erhält für 11,50 Euro bei den Gastgebern ein schmackhaftes Hausmannskost-Menü. Dabei erfährt man viel über die Region und die Zigeunerwagenfahrerei. Marinus und Herriet Ebben bewirten uns mit Schweinefilet, selbst gezogenem Salat und Gemüse. Vor 13 Jahren erfüllten sich die Niederländer einen Lebenstraum, kauften die Farm im Weiler Grandrupt-de-Bains und richteten einen kleinen Campingplatz ein. Heute, sagt Marinus lächelnd, müsse er viel mehr arbeiten als früher. Aber auf seinem Gesicht lesen wir tiefe Zufriedenheit.In Jésonville, der nächsten Etappe, lernen wir den Rentner Robert Audinot kennnen. Er ist stolz darauf, die Zigeunerwagenfahrten seit zehn Jahren mit zu organisieren. Für die strukturarme Gegend am Fuße des grand Ballon war das eine segensreiche Idee. Pferde und Wagen gehören der Kommune Fontenois-la-Ville, Chef ist der jeweilige Bürgermeister. regelmäßig setzen sich die Gastgeber der fünf Rundkurse zusammen, um Menüs und Strecken abzusprechen. Es sei gar nicht so enfach, die Routen auszutüfteln, bestätigt und einen Tag später Roger Thiebaut, der mit seiner Frau in Relanges am langen Eichentisch im gemtlichen Kaminzimmer fürstlich auffährt. Die Wege sollten nicht nur landschaftlich interessant sein, sondern auch wenig befahren. Wir sind nun ganz in der Nähe von Contrexéville und Vittel, zwei bekannten Mineralwasserbrunnen.Der frühere Landwirt Thiebaut, Vater von fünf Kindern mit zwölf Enkeln, holt einen 97er Rotwein von der Rhône aus dem Weinkeller und fährt uns am nächsten Morgen sogar mit seinem Kleintransporter in den Wald zu den Resten ener keltischen Siedlung. Hier ist die Freundlichkeit nicht aufgesetzt. Echtes Interesse von beiden Seite prägt die Gespräche."Am dritten Tag fängt euer Urlaub richtig an", hatte uns Monsieur Ebben vorhergesagt. Wie recht er hatte. Der Umgang mit dem Pferd wird natürlicher, wir genießen entspannt und haben die etwas dickköpfige Daisy längst ins Herz gschlossen. Urlaub mit einem PS ist sicher nichts für überzeugte Müßiggänger. Doch wer einen Bezug zu Tier und Natur hat und die Vogesen auf ursprüngliche Weise bereisen will, der sollte seine Siebensachen unbedingt mal in einen Zigeunerwagen packen.