Mit 1 PS in die Vergangenheit

    Familie &.
    31.01.2001
    ’’Klapp-klapp, klapp-klapp - was für ein beruhigendes Geräusch! Und der Motor verbraucht nix als Gras und Hafer! Eine Reise per Pferdekutsche ist das perfekte Kontrastprogramm zum lärmenden Alltag.’’ Karen Amme zuckelt mit ihrer Familie durch die Vogesen. Es ist heiß. Ein paar träge Stubenfliegen surren durch die Luft. Wir schreiben das Jahr 1875. Eine sanfte Hügellandschaft irgendwo in Frankreichs Norden. Rechts und links der Feldwege wachsen wilde Blumen, auf den Äckern sonnen sich goldgelbe Maiskolben. Gelegentlich taucht eine dicke Landfrau mit Schürze um den Bauch am Wegesrand auf, hin und wieder sehen wir ein paar Kinder, die uns freundlich zuwinken. Die Luft ist rein und frei von Abgasen. Und die Herren Daimler und Benz sind noch weit entfernt von ihrer automobilen Erfindung. Eine Zeitreise. Urlaub im 19. Jahrhundert, weit weg von der hektischen Großstadt. Klar, dass das Leben damals noch mit mehr Mühen verbunden war. Gut ein jahrhundert später wird man nur den Zündschlüssel umdrehen, um durch die Landschaft zu rollen. Wir aber reisen autofrei – in einem Zigeunerwagen. Unser Motor frisst Hafer. Er will gestriegelt , gefüttert, getränkt und aufgezäumt werden, bevor es losgeht. In unserer vierräderigen Kutsche pferchen sich Küche, schlaf- und Wohnzimmer auf rund acht Quadratmetern zusammen. Immerhin schon mit Kühlschrank, Gaskocher und einem Waschbecken mit angeschlossenem 20-liter-Kanister. Dazu kommen ein Tisch mit zwei Bänken, der nachts zum Doppelbett umfunktioniert wird, und zwei Stockbetten. Das war’s an rollendem Komfort. Mit unserem Holzwagen wollen wir die Vogesen bezwingen- allerdings nur den Teil, der sanft hügelig ist, keine gewaltigen Berge. In dem Gebiet etwa 200 Kilometer westlich von Freiburg gibt es ungefähr zwei Dutzend Dörfer, von denen keines auch nur in einem meiner Reiseführer verzeichnet ist. Und die zusammengenommen nicht mehr Einwohner haben als eine deutsche Kleinstadt. Eine Kulisse, die ins Altertümliche Urlaubserlebnis passt, wie der Apfel zum Pferd. Bestehend aus schlichten , schnörkellosen Fassaden. Und aus Feldern, Wiesen und Wäldern. Meist ohne eine Menschenseele weit und breit. Am Anfang steht die Einführung ins Kutschen-ABC, ein Gewirr aus Riemen, Gurten und Schnallen, die Pferd und Wagen miteinander verbinden. Danach folgen ein zweistündiger Schnelldurchlauf in Sachen Rosspflege und ein Grundkurs in französischer Pferdekommunikation: Soll der Gaul nach rechts abbiegen, sagt man „ à droite“, nach links heißt „à gauche“. Zum Gehen soll ihn das Wort „allu“ bewegen, eine Mischung aus dem französischen „allez“(gehen) und dem internationalen „hü“. Sollen Pferd und Wagen stoppen, horcht der Vierbeiner auf „oh-la“. Und der Wagen auf einen kräftigen Tritt auf die Bremse. Dann kommt das An- und Abschnallen. Erst theoretisch, dann praktisch. Und nachdem wir selbst Hand und Geschirr angelegt haben, führt uns Franziska, Pferde – und Wagenpflegerin, durchs Dorf. Nun erwarten Sie sicher eine weiter Lektion für unerfahrene Kutscher, die Fahrstunden sozusagen. Damit hatten wir aber auch gerechnet. Aber Pustekuchen- wer in der Vergangenheit Urlaub macht, muss schon selbst sehen, wie er klarkommt. Hinter dem letzten Haus von Fontenois la Villle stoppt Franziska unseren Gaul und gibt uns noch einen Ratschlag mit auf den Weg: „ Zeigt ihm immer, das ihr der Herr seid.“ Dann dreht sie uns den Rücken zu und geht. Jetzt, ein paar Stunden später, sind wir alleine mit Fougeuse. Michael (34)sitzt auf dem Kutschbock und hält die Zügel fest in beiden Händen, noch leicht mit gequältem Gesichtsausdruck. Ich (31) rutsche auf dem Sitz daneben hin und her. Gedanken schwirren durch meinen Kopf, Szenen aus alten Westernfilmen, in denen Kutschen mit sechs Heißblütern davor übers Land preschen und in riesigen Staubwolken verschwinden. Was, wenn unser Gaul durchgeht? Fougeuse verschwimmt vor meinen Augen zu einem trabenden Fegefeuer. Und es trägt nicht gerade zu meiner Beruhigung bei, als ich wenig später im Wörterbuch nachschlage, was ihr Name bedeutet. Fougeuse: die Feurige, die Aufbrausende. Die Sonne steht schon niedrig über den Feldern, als wir Pferd und Wagen unserem ersten Etappenziel entgegendirigieren. Auf einem Hof in dem kleinen Dorf Dampierre les Conflans können Fougeuse und wir uns vom ersten Tag ausruhen. Unser stämmige Pferd bekommt dort sein Futter und eine Koppel für die Nacht. Wir selbst parken unseren Zigeunerwagen und grillen uns etwas zum Abendessen. Die erste Kutschfahrt unseres Lebens liegt hinter uns. Mit einem Zugpferd, das aus 750 Kilogramm Muskelmasse besteht und unsere ganze Familie samt Droschke ins Verderben zerren könnte. Aber zum Glück will es das nicht, wie sich schnell herausgestellt hat. Denn erstens ist Fougeuse kein feuriger Mustang. Und zweitens ein ausgesprochen nettes Tier. Sie beißt nicht, sie tritt nicht. Sie bleibt nur selten unaufgefordert stehen. Und meist tut sie, was man ihr sagt. Mal abgesehen von ihrem Hang zum Britischen. Denn obwohl sich unser Gespann ordnungsgemäß rechts halten sollte, zieht Fougeuse konsequent nach links. Deshalb zerren wir immer am rechten Zügel. Und deshalb hat Tim(3)schon nach wenigen Kilometern Kutschfahrt die ersten französischen Vokabeln gelernt: „Fougeuse à droite“ – geh’ nach rechts. Am nächsten Tag trotten wir weiter. Durch Wälder und an Feldern vorbei. Auf staubigen Wegen und kleinen Straßen, immer schön gemächlich, meist im Schritttempo. Nur manchmal, wenn es bergab geht, fällt Fougeuse in Trab. Verglichen mit dem Dasein im 21. Jahrhundert, fühlen wir uns wie eine Schnecke auf Reisen. Immer wieder springen wir ab, spazieren neben unserem rollenden Zuhause her. Wir haben uns an unseren Vierbeiner gewöhnt, lassen ihn verschnaufen und Wasser saufen. Pflücken einen Maiskolben und belohnen ihn nach einem schweren anstieg damit. Dann ächzt er ein bisschen und schnaubt und setzt sich wieder in Bewegung. Klapp-klapp, klapp-klapp. Am Abend werden wir bei Madame und Monsieur Jardel in Baulay erwatet, die sich wie 14 weitere Bauernfamilien in der Region nebenbei Urlaubs-Zigeunern widmen. Sechs von ihnen werden wir insgesamt ansteuern, auf einer festgelegten Rundtour. Hier werden wir nicht nur Platz zum Grasen und Parken sowie sanitär Anlagen finden. Die Landwirte werfen auch einen Blick auf das Pferd und sein Geschirr, helfen bei Problemen weiter. Und außerdem kann man sich bei ihnen allabendlich zum Essen einladen. Wir sitzen an der langen Tafel im Garten der Jardels, an der die drahtige Grauhaarige und ihr Mann neben der eigenen Familie noch die kutschierender Kundschaft verpflegt. Tim muss unbedingt erst noch Äpfel für „seine“ Fougeuse suchen. Derweil schenkt Jean-Pierre roten Landwein aus und erzählt mit Händen, Füßen, Grimassen und Wörterbuch, was gleich auf den Tisch kommen wird: bunter Salat aus dem Gemüsegarten, danach Truthahn mit Kartoffeln und frisch gepflückten grünen Bohnen. Anschließend wird seine Frau eine Platte ausgewählter französischer Käsesorten reichen und danach zum krönendem Abschluss, zwei frisch gebackene Apfelkuchen. Leben wie Gott in Frankreich. Am vierten Tag Kutscherspielen haben wir endlich raus, welcher Riemen wohin geschnallt werden muss. Der Sprenggurt an die Deichsel, die Kinnkette an die Zügel, der Zughaken ans Kummet. Wir haben den Umgang mit der Bremse gelernt, soweit zumindest, dass wir Fougeuse weder in die Hacken fahren, noch ihren Lauf stoppen. Wir wissen, dass unser Hottehü mit einem Apfel vor der Nase auch die steilsten Berge schafft. Und dass wir zwar der Herr sind, aber Fougeuse stärker ist. Und das es somit besser ist, sich das Pferd zum Freund zu machen. Man könnte also behaupten, wir wären schon fast professionelle Zigeuner. Wir spannen unsere Stute aus, wie jeden Mittag, heute an einem einsamen Weiher inmitten eines dunkelgrünen Waldes. Fougeuse schnaubt freudig über das frische Gras, wir machen es uns auf einer Decke am See gemütlich. „109 Kutsch-Kilometer in einer Woche, darüber werden die mobilen Urlauber des Jahres 2001 lachen“, denken wir uns und schauen in den blauen Himmel. Aber dafür entgeht uns nichts. Wer im Schneckentempo durch die Lande zieht, sieht alles, hört alles, fühlt alles, findet alles. „Vor allem Ruhe“, sage ich. Und Beeren, an jeder Ecke, manchmal Himbeeren, gelegentlich auch wilde Erdbeeren, meist aber Brombeeren. Die letzte Etappe, zurück nach Fontenois la Ville. Michael übernimmt wieder die Zügel, inzwischen so lässig, als wäre er John Wayne höchstpersönlich. „Allü“, befiehlt er und schnalzt fachmännisch mit der Zunge, bis sich unsere Zugmaschine auf vier Beinen in Bewegung setzt. Tim trabt zu Fuß neben Fougeuse her und wendet sich ihr in regelmäßigen Abständen mit „liebes Mädchen“ zu. Nur hin und wieder wird seine Stimme lauter, dann schnauzt er sie an: „Fougeuse, à droit!“ hat Arbeit geleistet, hat uns sicher durchs 19. Jahrhundert kutschiert. Morgen müssen wir wieder zurück in unsere Zeit reisen. Viele Menschen werden um uns herum sein, lärmende Autos. Ich erwische mich dabei, Daimler und Benz zu verteufeln. Hätten sie ihre Erfindung doch bloß nicht gemacht....... Von Karen Amme