Okzidentale Horizonterweiterung

    Bettina L.
    08.09.2008
    Lieber Francesco, liebe Marinella,hier kommt unser Bericht über die Wanderung, wie wir ihn Euch versprochen haben.Zuerst noch einmal ganz herzlichen Dank für Eure große Gastfreundschaft – mille grazie per la vestra ospitalita! Es war sehr schön, Euch wieder zu treffen!Von Rho aus sind wir gut nach Süden gekommen; auch die Strecke durch Torino war kein Problem. Die Stadt war wie ausgestorben, eben Ferragosto.Hinter Dronero wurden Land und Straße schnell alpiner – die richtig engen Kurven kamen erst im Seitental, aber anfangs erschien uns schon die Talhauptstraße sehr eng. Besonders spannend war es, wenn uns Wohnmobile entgegen kamen. Von „Unberührt“ oder „Ausgestorben“ konnte man am 10.8. wirklich nicht reden.San Martino ist etwas ganz besonderes; uns hat es sehr gut gefallen: Gebäude, Gärten, Menschen und Tiere, alles passt zueinander. Der Abend war wunderschön, man hat einen unglaublichen Blick und kann sich schon richtig auf die Wanderung freuen. Krönung war natürlich das Essen. SOOO habe ich noch nie Möhrchen gegessen! Und die Reihe der richtig guten Weine hat hier auch gleich begonnen.Nachts im vollen Schlafsaal begann dann der erste Satz des Concerto Grosso (Konzert mit mehreren Solisten), das wir über die nächsten Nächte verfolgen sollten – zu meinem Erstaunen aber kaum mit Schlafstörung verbunden, sondern eher als komische Nummer erlebt. Erstaunlich, was für Geräusche manche Menschen produzieren können. Außerdem trappelte ein Bilch auf der Suche nach Essbarem auf den Balken herum – ein kleiner, putziger Gast, den wir am Reiseende wieder treffen sollten.Nach einem guten Frühstück mit Panoramablick und der vielfach beschriebenen Einweisung ging es los nach Elva. Der Himmel zog sich zu, und der Nachmittag wurde sehr nass. In der sehenswerten Kirche war zusätzlich eine Fotoausstellung zu sehen – man hatte alte Familienbilder der Bewohner von Elva gesammelt und auch zu der Familiengeschichte vieles aufgeschrieben. Manche Gesichter schienen uns nachher im Dorf wieder zu begegnen – oder war das Einbildung?Das Essen hier in Elva muss ganz besonders gewürdigt werden – es war für uns ein unbeschreiblicher Genuss, ideenreich und außergewöhnlich schmackhaft, eines erstklassigen Restaurants absolut würdig und eben in sehr familiärer Atmosphäre genossen.Das nächtliche Wasserrauschen endete passend am nächsten Morgen, und so begann der Tag zwar neblig, aber es ließ sich gut laufen. Erstaunlich fanden wir, wie schnell jeweils die Vegetation sich veränderte – im Wechsel mit der landschaftlichen Szenerie geschah dies oft innerhalb weniger Höhenmeter. Die Beschreibungen des Weges und des Drum-Herums in dem zu recht vielgelobten Buch von Frau Bauer und Herrn Frischknecht hat aus unserer Sicht recht gut getroffen, man kann sich damit einen guten Eindruck verschaffen. Schlau die Leute, die vorab die jeweiligen Seiten kopiert hatten und nun nicht das Buch selbst schleppen mussten…In Ussolo angekommen trafen wir auf eine muntere Dörfler-Seniorentruppe, die auf der Bank sitzend sehr aufmerksam unser Kommen und Gehen verfolgte, freundlich grüßte und bei leisestem Zögern im Schritt-Tempo unsererseits sofort gestenreich und hilfsbereit den Weg zum Schulhaus und damit zu Speis und Trank wies.Die hiesige Unterkunft war recht schlicht; aber weder diese Tatsache noch der zweite Satz des Concerto Grosso (diesmal mit Schweizer Solisten, der die Kunst des Sforzato subito „im Schlaf“ beherrschte) hat uns ernsthafte Schlafprobleme bereitet.Der Appell, auf dem Weg nach Campo Base unbedingt die Punta Colour zu besuchen, wird von uns unterstützt. Oben war es sehr windig, aber einige Meter unterhalb gab es den perfekten Pausenplatz. Der anschließende Weg nach Campo Base zog sich lang, und hier empfiehlt der Gebrannte Mensch guten Sonnenschutz einzusetzen…Besonders in Campo Base machte sich Ferragosto bemerkbar – nun mal nicht zu ändern, und auch nach dem Aufbruch von dort schnell vorbei. Als eher unbedarfte Wanderer sind wir nicht die Enchiausa-Variante, sondern über den Colle Ciarbonet nach Chialvetta gegangen, und das war genau richtig: Nach dem Anstieg in Gesellschaft sehr freundlicher Kühe mit zum Teil fantastischen Glocken haben wir zunächst die Aussicht vom M Estelletta genossen. Im Abstieg dann waren überall Murmeltiere zu hören und die Bauten zu sehen, und als ich gerade ganz furchtbar gerne einmal im Leben auch mal eines in echt und von Nahem gesehen hätte, saß es direkt vor uns. Wir standen still, das Murmeltier auch, so konnte man warten und gucken. Im weiteren Abstieg kamen dann die Murmeltiere Nummer zwei bis sieben und zeigten ihre Künste und ihre verschiedenen Fellchenfarben- ein schöner Tag! In Chialvetta gab es genug Zeit für einen Besuch des Museums. Wir fanden es sehenswert und interessant. Helmuts Wanderschuhe fühlten sich gleich zuhause und hätten unauffällig in die Reihe der dort ausgestellten Exemplare gepasst.Der Weg von Chialvetta nach Finello führte uns über den Soleglio Bue (oder Blue??); ins Marlboro-Land. Hier kam uns (das war das einzige Mal auf der ganzen Wanderung), gerade als wir über den Pass kamen, das schlechte Wetter mit Regen, Blitz und Donner entgegen. So schnell wie da waren wir weder vorher noch hinterher, und freuten uns sehr über den obersten großen Kuhstall. Nach dem Ende des Gewitters war der Abstieg nach Preit kein Problem. Dort gab es erst mal einen Kaffee, ein kleines Gespräch mit den wichtigsten Informationen für uns und die DVD des aktuellen Filmes „Il vento fa il suo giro“, der in Italienisch, Französisch und Okzitanisch gedreht wurde und hier in diesem Teil des Tales spielt. Der letzte Teil des Weges war der einzige auf der ganzen Wanderung, der uns unangenehm und vor allem wenig sinnvoll geplant erschien: Vor Canosio sollten wir noch einmal recht kräftig steigen (schlechter Weg, keine Aussicht), nur um auf der anderen Bergseits wieder runterzukrabbeln, und dies schlecht markiert – wir landeten irgendwo im Garten, andere mitten in der Wildnis…Wie wir hinterher sahen und auch auf einer neueren Karte nachvollziehen konnten, wäre wohl der Weg mit der Straße nach Vernettl und von dort direkt nach Finello auch möglich und wesentlich angenehmer gewesen.Entschädigt hat uns das gesamte Ensembleunserer Unterkunft im Lou Pitavin: Gebäude, Atmosphäre, Einrichtung, freundliche und außergewöhnlich bemühte junge Wirtsleute und nicht zuletzt der Bernhardinerhund in beeindruckender Größe. In der Unterkunft hatten wir ein Erlebnis der dritten Art: Während wir vier auf unseren jeweiligen Betten lagen und uns ausruhten und ein fünfter Wanderkollege in der „Wandschrankdusche“ in Aktion war, ging plötzlich die Zimmertür auf, und zwei ältere Französinnen stürmten mit dem Schlachtruf „Douche, douche“ ins Zimmer, ließen sich durch nichts aufhalten und rissen die Tür zu der besagten Dusche auf. Erst der Anblick des duschenden Kollegen stoppte sie abrupt und führte zu vielen Entschuldigungen und Rückzug, bei uns und dem Duscher zu großer Heiterkeit. Später wurde dann erläutert, dass eben diese Damen keine eigene Dusche hätten und (nunmehr nach Erkundung des Belegungszustandes) eben bei uns die Einrichtungen nutzen sollten. Weitere Komplikationen traten nicht auf, das Essen war hier ebenfalls exzellent und auch die Weine ganz besonders gut.Der Weg nach Palent ist von Anfang an sehr schön, viele wunderbare Aussichtspunkte und ein häufig wechselnder Blick in die jeweiligen Täler- so allmählich fügt sich ein Gesamteindruck vom Mairatal zusammen. Palent selbst war für uns beeindruckend in seinen Gegensätzen auf so kleinem Raum, und natürlich und vor allem durch Matteo und Virginia.Wir trafen dort eine Französin mit ihrem Mann, deren Mutter in Palent geboren war und mit 15 nach Frankreich ausgewandert war, seitdem nie mehr in ihre Heimat zurückgekehrt war, und deren Großvater in Palent geboren und gestorben war. Die Stimmung, die bei dieser Begegnung herrschte, war sehr eindrücklich und ließ das trotz aller Distanz offenbar deutliche „Heimatweh“ sehr spüren.Der Dorfofen wurde angeheizt und ein superleckeres Brot gebacken; beim Abendessen kamen wir zum ersten Mal an unsere Grenzen, was die Mengen anbetraf. Wir haben gespachtelt, so gut es ging, aber die Hausherrin selbst und vor allem die Nichten haben nicht ausreichend mitgeholfen. So blieb für Virginias Geschmack zu viel übrig, und wir mussten sehr deutlich erklären, das ES UNS GESCHMECKT HAT!Über Genepy wurde viel geschrieben – wir fanden Matteos Geschichten hörenswert und den Genepy sehr gut. Er schmeckt übrigens auch hier zuhause noch gut. Ein unvergesslicher Abend!Der Rückweg nach San Martino war fast traurig, trotz schöner Sicht und klarem Flüsschen. Die Füße wollten immer langsamer gehen, damit der Weg nicht an sein Ende kommen sollte, was aber nicht zu verhindern war. Ein wenig war es schon wie nach Hause zu kommen, und der Abend auf der Terrasse mit dem Fünf-Sterne-Blick war genau wie das supergute Essen ein würdiger Abschluss der ganzen Tour. In unserem Zimmer hatten wir dann des Nachts einen kleinen Gast: Der Bilch war wieder da, angezogen vom Duft unsres letzten Wanderapfels, tat er sich daran gütlich und machte mit dem Genage einen rechten Spektakel.Das Ganze war für uns eine kernige, aromatische Erfahrung, Wanderungen wie Essen und Weine- kein „Hauptsache-Ruhe-Urlaub“, aber unglaublich erholsam und das Fenster zu einer uns völlig unbekannten Welt. Wir waren sicher zwar zum ersten, aber nicht zum letzten Mal hier!