Auf 10 Rädern ins toskanische Glück

    Sabine W.
    23.08.2015
    Die Toskana an sich ist kein Geheimtipp mehr. Es gibt Yoga-Reisen, Töpferkurse für Hausfrauen, Exkursionen zu den Produktionsstätten großer Weine und seit vielen Jahren auch das Angebot, auf so genannten "agriculturas" Urlaub in authentischer Atmosphäre zu machen. Natürlich haben die Anbieter mittlerweile auch Familien als Zielgruppe entdeckt. So dass man mit dem Nachwuchs in historischen Städten wandeln, Wanderungen im hügeligen Hinterland unternehmen oder sich an einem der vielen wunderbaren toskanischen Stränden tagelang mit dem Ausbau von Festungen aus Sand beschäftigen kann. Wer gerne Rad fährt, ist in diesem Teil Italiens gut aufgehoben; Rennrad-Fans kommen ebenso auf ihre Kosten wie begeisterte Mountainbiker. Die Kombination "Familie und Biken" wird aber trotzdem erstaunlich selten angeboten. Was vielleicht daran liegt, dass die Hitze abschreckt oder die hügelige Landschaft. Möglicherweise geht es vielen Eltern wie uns: Wir hatten unterschwellig die Sorge,dass wir uns im zum Teil nahezu unbewohnten Hinterland hoffnungslos verfransen könnten, so ganz ohne Guide und Radfahren für unsere Kinder dadurch etwas albtraumartiges bekommen könnte. A la "lost in space". Als wir uns als 5köpfige Familie mit drei Kindern zwischen 3 und 12 Jahren irgendwann Anfang des Jahres dann doch für eine so genannte "Familienradreise in der Toskana" entschieden haben, war uns offen gestanden nicht wirklich klar, worauf wir uns einlassen. Der Wunsch, mit der Familie an einem Ort in Italien Rad zu fahren war groß, das Angebot, das der Veranstalter "ReNatour" uns machte, schien sinnvoll und gut durchdacht. Und klar: Unser Ehrgeiz war geweckt, nachdem wir selbst viele Jahre lang aktiv Rad gefahren waren und uns, nachdem Kinder, Job und Alltag uns eingeholt hatten, viel zu selten in den Sattel geschwungen hatten, in den letzten Jahren. Anfang August kamen wir bei rund 40 Grad im Schatten mit vier Mountainbikes und einem Radanhànger fùr die Jüngste in der Unterkunft an. Einem, wie es im Prospekt so schön heißt "Ferien- und Bikerparadies am Fuss des Hùgels von Massa Marittima, inmitten der wunderbaren Landschaft der Toskana". Wir waren spät, hatten uns von München ùber den Gardasee fast 10 Stunden durch Staus gequält und die Fahrt mit drei Kindern "genossen", die sich irgendwann nicht mehr mit der Aussicht auf einen kühlen Pool, ein Rieseneis oder einem Extra-Taschengeldzuschuss besänftigen ließen.

    Das Ankommen war entsprechend. Erschöpft schälten wir uns aus dem Auto. Und wurden, kaum ausgestiegen, von "Ernesto" begrüßt. Ernesto ist eigentlich Schweizer und hieß in seinem früheren Leben auch Ernst. Lebte lange in Zürich und entschied sich dann, von einem Tag auf den anderen, in die Toskana zu gehen. 30 Jahre ist das jetzt her. 2015 wurde das Jubiläum gefeiert. Und Ernestos Lebensgeschichte, die eng verknüpft ist mit dem Ort, sogar verfilmt. Wer sich gerne ein wenig über Ernestos Motivation und Entwicklung informieren mag, sollte sich die 20 min Zeit nehmen für diesen Film nehmen. (siehe Link: ?..). Es lohnt sich! Gelohnt hat sich auch das lange Warten auf das Abendessen. Denn obwohl es auf Mitternacht zuging, servierte uns eine überaus freundliche Mitarbeiterin ein vollständiges Menü mit Salat, Pasta, Fleisch und "dolce". "Jetzt kommt erst mal an und esst was"?, lud uns Ernesto ein. Und setzte sich nach dem 2. Gang an unseren Tisch (was er im übrigen auch an den folgenden Tagen zur großen Freude unserer Jüngsten - "Ernestooooooo" - immer wieder mal tat) um mit uns zu plaudern bzw. unsere Wochenprogramm und den ersten Tag zu besprechen. Im gebuchten Paket waren fùnf begleitete Radtouren und ein Technik-Training enthalten, ebenso Frühstück und Abendessen, Pump Track (eine Art Technikstrecke mit speziellen Pump Bikes, die Begeisterungsstürme bei den großen Jungs auslösten), Bike-Garage, Schwimmbad, GPS Tracks, Wasch-Anlage und Shuttle-Service von und zu den Freeride-Pisten sind für alle Gäste inklusive. Vom ersten Tag inklusive, wenn auch in keinem Leistungsverzeichnis aufgeführt, war die für uns die überragende Freundlichkeit und Toleranz, das Interesse und die Seviceorientiertheit, mit der wir nicht gerechnet hatten. Ernesto ist unbestritten das Herz der Unterkunft. Aber auch die beiden erwachsenen Töchter Arianna und Alice, die im Unternehmen mitarbeiten ebenso wie die vielen Mitarbeiter - beginnend bei den durchtrainierten Bike-Guides endend bei den Service- und Zimmermädchen - tragen den ?Spirit? des Ortes vor sich her. Sicherlich gibt es viele Hotels und Pensionen in der Toskana, die schönerer Zimmer, größere Poolanlagen, mehr Stoffservietten oder elektronische Geräte in den Zimmern haben. Aber aus unserer Sicht gibt es wenig Orte, die so authentisch und echt das Lebensgefühl der Toskana widerspiegeln. Beginnend bei den immer sehr ausgedehnten, typischen Mahlzeiten, die in einer unglaublichen Fülle und Vielfalt die ganze Palette der zwar einfachen, aber ausgesprochen schmackhaften Küche der Maremma bot. Endend bei den zum Teil auch sehr ausgedehnten MTB-Touren in der Gegend. Wer sich wie wir einer Gruppe anschließen will oder sogar einen Guide wie Ernesto für die Familie gewinnen kann, hat den Vorteil, an Plätze zu kommen, die man alleine niemals finden würde. Wir sind auf der Trasse der alten Eisenbahnlinie gefahren, haben das ehemalige Bergwerk gesehen, den wunderschönen steinernen Bahnhof von Massa Marittima, wir waren im Lago di ?.. baden, dessen kalte Quellen nur Eingeweihte kennen und haben Katzengold gesammelt, um es später gegen ein paar Kugeln vom ?weltbesten Eis? (Originalzitat Levi) am Marktplatz einzutauschen. Wer als Familie auf Tour geht kann sicher sein, dass Ernesto die Strecke dem "schwächsten Glied im Rudel" anpasst. "Die Gruppe ist immer nur so gut, wie der, der als letztes über die Ziellinie kommt", war ein Spruch, der vor allem die älteren Jungs nachhaltig beeindruckt hat. Wie überhaupt vieles, was die Kinder lernen durften, weniger mit Technik beim Biken zu tun hatte, sondern mit dem Leben.

    Toleranz, Freundlichkeit und gelebte Integration, versehen mit einer großen Portion Lebenserfahrung, prägen den Tag und das "Sein". Niemand käme auf die Idee, am morgen NICHT zu grüßen oder sein Rad nicht selbst in die Bike-Garage zu stellen. Die Guides, die am Vormittag die Tour zum Meer begleiten und uns dort den schönsten Strand von Follonica gezeigt haben, stehen mittags am Buffet und verteilen Pasta oder wischen abends die schönen alten Terracotta-Böden. Die Hierarchie ist flach, das "Du" selbstverständlich und trotzdem herrscht eine respektvolles Miteinander wie wir es selten erlebt haben. Die Kinder blühen in dieser Atmosphäre regelrecht auf, sie übernehmen plötztlich die Verantwortung für Jüngere, helfen beim Tischabräumen oder putzen in der Wasch-Anlage akribisch alle Räder der Familie, was zuhause völlig undenkbar oder nur unter Protest möglich gewesen wäre. Weil die Guides, allen voran Ernesto, als "Rudelführer" unbestritten sind, haben unsere bikenden Jungs in den zwei Wochen hier auf den verschiedenen 2-4süùndigen Touren enorme Fortschritte gemacht. "Das schöne hier ist, dass niemand Verlierer ist", beschrieb Jonas unser ältester es sehr treffend. Wer den Anstieg nicht alleine schafft, wird von Ernesto geschoben. Auch Eltern, die sich làngere Strecken oder Steigungen nicht zumuten wollen, erhalten Unterstützung: Top-moderen E-bikes von Scott machen sogar die Fahrt mit einem schweren Radanhänger und einem 15 kg Nesthäcken zum Vergnügen. Die Tage, an denen das MTB in der Garage stehen bleibt, sind einfach zu füllen. Die Städte Grosetto, Siena, Volterra, Pisa sind mit dem Auto gut zu erreichen, das Meer in ca. 17 km Entfernung sollte man sowieso gesehen haben und wer einfach einen schrecklich faulen Tag am Pool verbringen will, kann das natürlich ebenso tun. Mit der Option, eine Runde Tischtennis oder Beachvolleyball zu spielen, falls der Sportsgeist plötztlich wieder erwachen sollte.

    Als wir ankamen, vor zwei Wochen, waren die Gesichter blass, die Köpfe voll, die Räder sauber und die Kleider schön geordnet im Koffer gelegen. Mittlerweile sind wir braun gebrannt. Die Räder sind schmutzig, die Radkleidung starrt vor Dreck. Unsere Arme und Beine sind zerkratzt von Brombeerstauden, Hecken und Stauden, unsere Gesichter strahlen, die Kinder wollen "nie wieder weg von hier" (oder schnell wieder kommen, alternativ), wir haben uns an Singletrails, Canyons und Rampen müde ? und glücklich geradelt. Und in diesen zwei Wochen sind viele Tränen geflossen. Ein paar wenige vor Zorn (weil der Jüngere nicht sofort begriffen hat, wie ein Pump Bike funktioniert), ein paar wenige bei einem Sturz des Grösseren. Und die allermeisten vor Glück. Darüber, mitten in der Toskana, mitten in der Pampa einen Ort für die ganze Familie gefunden zu haben, der uns einfach unfassbar glücklich gemacht hat!